Über Curriculum vitae
Zwangsweise emeritiert, durch vielerlei Verbote in seiner wissenschaftlichen Arbeit gehindert, begann der Dresdner Romanist Victor Klemperer 1939 mit der Niederschrift seiner Autobiographie. "Mit dem Bibliotheksverbot bin ich nun buchstäblich arbeitslos geworden. Ich habe mir vorgenommen, nun wirklich einen Vita-Versuch zu wagen."
So hatte er es in seinen kürzlich erschienenen Tagebüchern notiert, die mit dem Alltag der Judenverfolgung auch die entwürdigenden Umstände festhielten, unter denen die "Vita" entstand: jenes geschliffene Zeit- und Sittenbild des deutschen Mittelstandes vor und nach der Jahrhundertwende von höchster Genauigkeit, ohne Sentimentalität oder Bitterkeit.
"Das ist das schlechterdings Fabelhafte der Prosa-Existenz Victor Klemperers: seine unter gar allen Umständen gleichbleibende Genauigkeit, die sich oft genug auswächst zu einer Unerbittlichkeit gegen ihn selbst."
Martin Walser in seiner Laudatio auf Victor Klemperer zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1995
"Klemperers Curriculum ist ein Ozean komplexer Beziehungen zwischen banalster Alltäglichkeit, Begegnungen mit der Geschichte und Ausflüge in die Gefilde von Kunst und Literatur. Diese ungeschminkte Mobilisierung komplexester Lebenszusammenhänge eines deutsch-nationalen jüdischen Mitbürgers von der Zeit der Jahrhundertwende bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges läßt einen Kosmos vergangener Lebensbezüge wieder lebendig werden, und damit auch ein sprachliches Medium (der naturalistisch-jugendstilistischen literarischen Denkstrukturierung), das wir tot und vergessen wähnten. Curriculum vitae ist nicht zuletzt auch in der Sublimierung banaler Sprach- und Denkraster ein außergewöhnlicher Text, der aus der deutschen Literatur nicht wieder wegzudenken sein wird."
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