Über Das Sehbare und das Unsehbare
Die Bildanschauung wird zum unvergleichlichen Abenteuer, wenn Kunstwerke intensiv
betrachten werden: Erst dann ist es möglich, tief in ihre Phänomenwelt und in die
Eigenwirklichkeit der Malerei einzutauchen. Erst dann aktualisiert sich auch das
genuine Wirkungspotential der Bilder. Jürgen Stöhr, Professor für Kunstgeschichte an
der Universität Konstanz, lädt ein zu einer rezeptionsästhetisch-phänomenologischen
Reise durch großartige Bildlandschaften. In Théodore Géricaults Floß der Medusa gilt
es, das dynamische Seh-Geschehen und die komplexen Gestaltbildungen zu verfolgen,
die dem Werk bisher ungesehene Sinndimensionen eröffnen. Mit den Bildreliefs von
Frank Stella beginnt die Jagd auf Moby Dick. Alles kreist hier um die Frage: Wie
können dessen ungegenständliche Werke Melvilles Roman narrativ folgen, wenn dieser
selber schon von der Unmöglichkeit des Erzählens handelt? Die Bildlandschaft, die
Anselm Kiefer in seinem Historienbild Varus entfaltet, erfordert ein Eintreten in
den Gründungsmythos der Hermannsschlacht. Hier stößt man auf eine detaillierte
bildlogisch entfaltete Genealogie patriotisch-vaterländischen Denkens ¿ aber auch
auf die Frakturen und Instabilitäten und auf die apokalyptischen Konsequenzen dieses
deutschen Ur-Narrativs. Stets geht es um das, was für das Auge sehbar wird, und um
das, was unsehbar bleibt, aber dennoch nicht wegzudenken ist.
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