Über Goldener Boden
Mit Fleiß und Fortüne baut Gustav Hirsch in Hinterpommern Anfang des 20. Jahrhunderts ein Vermögen auf. Den Grundstock legt sein Aufenthalt in Amerika. Der 19-jährige Bauernsohn ist von Freiheitsdrang erfüllt, er flieht vor dem Kommiss und findet Arbeit bei einem deutschen Friseur in New York. An der Lower East Side lernt er eine Welt kennen, die viel härter ist als alles, was er sich hat vorstellen können - und die ihm zeigt: Nicht überall hat die Obrigkeit das Sagen, und auch ohne Befehl und Gehorsam kann sich eine Gesellschaft organisieren. Gustav findet Anschluss unter deutschen Einwanderern, und er verliebt sich in Lisbeth, die Tochter seines Chefs. Aber dann muss er zurück nach Stolp: Zwei Brüder sind tot und seine verwitwete Mutter allein.
Im März 1945 flüchtet Clara, Gustavs Tochter und jüngste Friseurmeisterin Pommerns, mit vier kleinen Töchtern über die Ostsee. Zunächst in einer Dachkammer in einem thüringischen Dorf, später in Kiel beweist sie, was das alte Sprichwort sagt: Handwerk hat goldenen Boden. Mit nichts als ihrer Hände Arbeit baut sich die Familie eine neue Existenz auf. Sie essen und trinken, erwerben Häuser und feiern Hochzeit - und doch ist zu spüren, dass etwas nicht stimmt. Denn über allem hängt der Schatten des Schweigens, das, wovon man nicht spricht: die SS-Vergangenheit von Claras Mann.
In Ulrike Dotzers Roman verdienen drei Generationen von Friseuren ihr Geld damit, Menschen schöner zu machen. Wir schauen mit ihnen und ihren Kundinnen und Kunden in den Spiegel und erblicken - auch uns selber. Denn so wie ihnen erging es im letzten Jahrhundert Millionen von Menschen: Sie bauten Wohlstand auf, verloren ihn wieder und fingen von vorne an - trotz der inneren und äußeren Wunden, die der Zweite Weltkrieg ihnen geschlagen hatte. Und so ist dies auch ein Buch über die Angst und den Schmerz in vielen von uns, über die Einsamkeit derer, die im Krieg Kinder waren, und von Erfahrungen, die fortwirken im Verhältnis zu den eigenen Kindern und Enkeln.
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