Über Ein freies Weib
In einen dröhnenden Frühjahrssturm hinein hatten sie Vater zu seiner letzten Ruhestätte hinausgefahren. Langsam hatte sich vor nicht ganz zwei Stunden, kurz nach drei Uhr nachmittags, der kleine schwarze Leichenzug die endlos lange Vorstadtstraße hinaufgeschoben, die zu dem an ihrem äußersten Ende gelegenen Friedhof hinausführte. Mitten hinein in das unaufhörliche, in seiner Gewalt fast schrecklich anzuhörende Dröhnen und Sausen; denn der Sturm war dem Zuge vom oberen Ende der Straße her gerade entgegengebraust. »Vater würde wohl seine Freude haben, wenn er den Sturm hören könnte«, dachte Mieze, die sich jetzt mit Frau Dühring, ihrer Mutter, und ihrer dreizehnjährigen Schwester Fanny auf dem Heimweg vom Friedhof befand. »Auch über Gewitter hat er sich ja so gefreut; und gerade wenn sie am schlimmsten waren und alle sich fürchteten.« Ein sonderbares, plötzlich aufquellendes Mitleid hob ihr den jungen Busen, zwei Tränen traten ihr in die Augen, und vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben mit solcher Bewußtheit verfiel sie in ein Nachdenken, was Vater doch für ein merkwürdiger Charakter gewesen war ... Der Sturm raste mit unverminderter Gewalt weiter. Die breite Mittelallee, die beiden Fahrdämme und die Trottoirs wie die Tünche der öden drei- und vierstöckigen Vorstadtmietkasernen zeigten noch streifige und fleckige Spuren und stumpfglastende Tümpel von den heftigen Regengüssen der letzten Tage, die bis heute mittag, wo der Sturm sich erhoben hatte, angedauert und die der Sturm jetzt wegtrocknete, so daß Erdreich und Pflaster schon allenthalben mit einem frischen, sauberen Grau hervortraten.
Mehr anzeigen