Über Geschichte der bulgarischen Literatur
Zu den wichtigen Entdeckungen beziehungsweise Neujustierun-gen dieser bulgarischen Literaturgeschichte gehört, dass nicht etwa die großen, anerkannt klassischen Autoren Auskunft über ihre Zeit und ihre Zeitgenossen geben, sondern eher vergessene, da als sekundär betrachtete Autorinnen und Autoren. Klassikern wie Ivan Vazov oder Zahari Stoyanov war in hohem Maße daran gelegen, dem misstrauischen Volk der Untertanen, für die Staat immer das Externe, das Böse war, durch attraktive Heldenfiguren und eine heroische Geschichtsdeutung suggestive nationale Gründungsmythen bereitzustellen, die zur Identifikation mit dem neuen Nationalstaat einluden. Dabei zeigt sich, dass etwa Vazov selbst keineswegs pathetischer Nationalist war, sondern Pathos und Mystifikation gezielt als literarische Mittel einsetzte.
Kirova überprüft solche auch politisch bald schon instrumen-talisierten Mythen auf der Grundlage intensiven Quellenstudi-ums und kritisch-vergleichender Lektüren. Darüberhinaus öffnet sie das bislang bewusst aufs Bulgarische reduzierte Blickfeld und fördert zutage, wie wachsam die bulgarischen Autoren und Pub-lizisten des 19. Jahrhunderts das politische und literarische Ge-schehen in Europa verfolgten und adaptierten. Vazov, der Fran-zösisch, Russisch und Türkisch sprach, lernte für seine Romane und Versepen von Victor Hugo ebenso wie von Alexander Puschkin; Zahari Stoyanov las den französischen Nationalhistoriker Jules Michelet, aber auch Heinrich Heine.
Am Beispiel der schon wenige Jahre nach der Befreiung gras-sierenden sozialkritischen Literatur weist Kirova nach, wie bulga-rische Autoren aus Enttäuschung und Ressentiment über die po-litischen Missstände ihrer Zeit die Idylle bzw. retrograde Utopie vom intakten bulgarischen Dorf konstruierten, um eine Gegen-welt zu haben, in der ihre Ideale fortleben konnten. Und sie weist nach, wie diese Konstruktionen bis heute wirksam sind.
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