Über Wahlverwandtschaften
Philipp Lenhard widmet sich im vorliegenden Band der Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum vom wilhelminischen Zeitalter bis zum Vorabend des Holocaust. Er zeigt, dass ohne die Perspektive der Freundschaft wesentliche Einsichten in das Denken, Fühlen, Hoffen und nicht zuletzt Handeln der deutschen Juden fehlen. Gerade für die junge Generation der um 1900 Geborenen repräsentierte die Ideologie, das Versprechen der Freundschaft so vieles, das ihrem alltäglichen Leben Sinn und Bedeutung gab. Die Frage, wie "richtig" zu leben sei, konnte die Tradition oft nicht mehr beantworten. Stattdessen verbürgte die Freundschaft ein Leben, das auf Loyalität und Treue, auf Wahrheit und Gleichberechtigung basierte. Man wurde in eine Freundschaft nicht hineingeboren, sondern wählte sie sich aus freien Stücken und demonstrierte damit zugleich Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit. In einer Welt, die dem Einzelnen fremd und feindlich gegenüberzustehen schien, bot Freundschaft eine Form der Heimat, in der man nicht mehr einsam war. Für alle Protagonisten dieses Buches gilt, dass sich ihr Jüdischsein nicht erfassen lässt, wenn nicht Freundschaft als kulturgeschichtliches Phänomen ernst genommen wird - so ernst, wie es die historischen Akteure selbst genommen haben. Durch eine solche Perspektive geraten endlich zentrale Aspekte der jüdischen Kultur-, Ideen- und Sozialgeschichte in den Blick, die bislang durch andere Narrative überdeckt wurden.
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