Über Europäische Lyrik seit der Antike
Seit der griechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Antike und in immer erneuten Rückgriffen auf diese beiden Traditionen haben die Völker Europas einen großen Schatz von Gedichten geschaffen, die die Epochen ihrer Geschichte zum Ausdruck gebracht und selbst mit geformt haben. Während Mythos, Epos und Roman die großen Geschichten der Welt und der Götter, der Völker und Helden erzählt haben, hat das Gedicht schon früh die Ich-sagende Stimme geschaffen und ihr so ermöglicht, sich in den großen und kleinen Ereignissen der Zeit zu Gehör und Geltung zu bringen; Gefühle, Haltungen, Werte auszuprobieren und so neue Mentalitäten vorzubereiten. Diese Arbeitsteilung zwischen Gedicht und Erzählung bleibt in den Vorlesungen dieses Buches immer im Blick, weil sie die inzwischen entwickelten Zugriffsweisen der Erzählforschung, der Narratologie, nutzen, um die besonderen Möglichkeiten der Lyrik zu entdecken. So sieht man klarer, welche Rolle Gedichte und Lieder spielen in der Subjektivierung der Religion und der Liebe seit den Reformationen, wie sie die Freisetzung des Individuums in der Aufklärung fördern und eine neue Natur- und Kunstreligion einüben, den Nationalismus des 19. Jahrhunderts stimulieren und mit gewagten Experimenten neue Haltungen im Prozess der modernen Zivilisation einzunehmen. Die Fachdisziplinen haben diesen gemeinsamen Schatz untereinander verteilt und damit fast aus den Augen verloren. Die öffentliche Vorlesung aber hat ihn den Beteiligten wieder sichtbar gemacht, immer am Beispiel und in einer allen zugänglichen Sprache, die in diesem Buch erhalten geblieben ist.
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